Während Stoffe im Alltag
dominierend über visuelle Aspekte wie Farben und Dessins
wahrgenommen werden, muss man jetzt vor diesen aufdringlichen
Qualitäten die Augen verschließen und nur mit dem
Tastsinn die verborgenen, subtilen Wesensmerkmale erforschen und wirken
lassen.
Die Arbeit im Unterricht begann prosaisch mit der Vorbereitung des
Bilduntergrundes und der Einführung der technischen
Grundlagen: Erfahrungen mit Fadenlänge, Einfädeln,
Vernähen und Vorstich. Zur Stabilisierung der neutralfarbigen
(quasi farblos gemeinten) Stofffläche nähten wir
diese auf DIN-A4-Karton, in den wir mit Lineal und Prickelnadel
Einstichlöcher in gleichmäßigen
Abständen vorgestanzt hatten. Erst nach dieser
Fleißarbeit kam der Inhalt der Unterrichtseinheit in Gestalt
der Renoir-Postkarten ins Spiel.
Bei der Bildbetrachtung klärten die Kinder für sich
zunächst den Bildinhalt. Sie erklärten, dass die junge
Frau ihr weißes Hochzeitskleid trägt, dazu Verlobungsringe,
und dass sie schon für das Fest geschminkt ist und auf ihren
Bräutigam
wartet, der sie aber wahrscheinlich verlassen hat, da sie nicht richtig
lächelt und die Augen, in denen eine Träne blinkt,
traurig halb geschlossen hat.
Der Impuls "Wie fühlt sich das an, was man auf dem Bild
sieht?" irritierte die Schüler und führte zuerst zum Befühlen der Postkarten,
dann aber zu der Idee, dass man an sich selbst mal Nachfühlen
könnte. Haare, Haut und Kleid wurden als Träger
unterschiedlicher haptischer Merkmale benannt.
IIn blickdichten Wühl-Kartons hatte ich Stoffe mit
unterschiedlichen haptischen Qualitäten bereitgestellt. Die Kinder
griffen hinein und wählten mit den
Händen die Stoffe aus, die ihren Vorstellungen von der
Fühl-Qualität der Einzelaspekte entsprachen,
während sie gleichzeitig auf das Bild schauten. Der visuelle
und der taktile Eindruck wurde so in simultane
Übereinstimmung gebracht.
Es war vereinbart, dass nach der blinden Auswahl die herausgezogenen
Stoffe nicht
umgetauscht werden sollten, wenn sie den Kindern beim Ansehen
vielleicht nicht
gefielen oder nicht zum Bildgegenstand zu passen schienen. Wie die
Stoffe aussehen, darauf kam es hier ja ungewohnterweise gar nicht
an: Es sollte nur das Fühlen, nicht das Sehen von
Bedeutung sein. So entstand bewusst der Widerspruch, dass das
Offen"sicht"liche, nämlich die optische Qualität der Stoffe,
nicht von Bedeutung ist, sondern nur die unsichtbare, lediglich
tastbare Qualität der Stoffe gemeint und somit der
Aussageträger ist.
Den Formen des Vorbilds entsprechend legten die Kinder ihre
ausgewählten Stoffe auf den Untergrund und nähten sie
mit freien Vorstichen so auf, dass beim Aufrichten des Bildes die
Stoffanordnung möglichst erhalten blieb. Es fiel ihnen nicht
ganz leicht, sich aus dem flachen Auflegen der Stoffstücke zu
befreien und zu wagen, sie zu drapieren und auf diese Weise in die
gewünschte Form zu bringen. Das Entstehen von Falten und
Unregelmäßigkeiten erlebten sie erstmals als
möglichen beabsichtigten Gestaltungseffekt.
Überwiegend
wurden für die Haare die haarigen Stoffe wie Pannesamt oder
die flauschige Seite der Vlieseinlage gewählt. Das Kleid haben
die Kinder über die weiße Farbe mit Festlichkeit,
Hochzeit und darum öfter mit seidig Kostbarem in Verbindung
gebracht als mit robusteren Leinen- oder Baumwollstoffen. Haut war
meist so glatt und fein wie möglich, manchmal aber auch
körnig: Ein Schüler: "Die Haut hat viele Poren so wie
das Leder."
Bei welchen Aspekten die Stoffauswahl leicht oder schwer fiel, welche
Gründe zur Auswahl führten, wurde in der Reflexion
ebenso thematisiert wie die Gestaltungsmittel der Malerei, die
Fühleindrücke bewirken, z. B. "viele Farben in den
Haaren" oder das verschwommen-weiche Gesicht. Das Bewusstmachen der
taktilen Assoziationen führt zu differenzierter und
begründeter Wahrnehmung des Bildes.
Die Unvollkommenheit der üblichen einkanaligen visuellen
Wahrnehmung von Bildern kann hier erlebt werden: Die
Bedeutungslosigkeit, das Nichtgemeintsein der Farben und Muster der
Stoffe bewirkt, dass das Sehen der Textilbilder einen falschen Eindruck
macht: Diese Bilder müssen nicht mit den Augen, sondern mit
den Händen betrachtet werden! Dies führte zur
Er-kenntnis der spezifischen Eigenschaft von textilem Material: der
Fühlbarkeit auf der Haut und der Schmiegsamkeit, was auch dem
hauptsächlichen Einsatz von Textilien als Kleidung entspricht.
Die Materialerkundung zeigt aber auch, dass der ursprüngliche
Zusammenhang zwischen organischen Materialien - Haar, Haut
Pflanzenfasern - und Textilien fast Geschichte ist: Der
überwiegende Teil der angesammelten, also heute verwendeten
Stoffe gehört nämlich zur "Poly-Familie" der
Chemiefasern.
Nach drei Doppelstunden waren die
Kinder stolz auf ihre Arbeiten und freuten sich darauf, sie den Eltern
zu zeigen. Enttäuschende Reaktionen der an "ordentliche
Handarbeiten" als Maßstab gewöhnten Eltern
befürchtend, fragte ich die Kinder, was ihre Eltern wohl zu
den Stoffbildern sagen würden. "Die würden das
bescheuert finden." Warum? "Weil sie nicht wissen, warum wir das
gemacht haben. Das müssen wir ihnen erst erklären."
Die Kinder haben also erfahren, dass ihre Werke - wie viele Kunstwerke
- nicht durch bloßes Anschauen ganz verstanden und
gewürdigt werden können. Anhand der in der Klasse
ausgestellten Arbeiten habe ich den Eltern in der
Klassenpflegschaftsversammlung über die
Entstehungshintergründe der "wilden" Bilder berichtet, die
daraufhin mit wohlwollendem, gemäßigtem Befremden
angenommen und gewürdigt wurden.
Beim Bilderaufhängen konnte ich mich an einer unfreiwilligen
"Lernzielkontrolle" erfreuen. Unsicher über Oben und Unten
fragte ich eine Schülerin: "Wie herum muss dein Bild
hängen, so oder andersrum?" Da rief sie: "Frau Rother, warum
fühlen Sie nicht?"