Die große Bedeutung der Reliquien für die Klosterfrauen drückt sich in der überreichen Schmuckarbeit aus. «Die Nonnen müssen aber sehr viel Arbeit damit gehabt haben!», meinen auch die Kinder. Ein Gefühl für diesen Arbeitsaufwand entwickeln sie selbst, als sie - als ungeübte Anfänger - ein winziges Detail aus dem Schmuckreichtum nacharbeiten. Nach dieser eigenen Erfahrung können sie noch besser ermessen, welche Ausdauer und Liebe zum Gegenstand in den sichtbaren Arbeitsergebnissen steckt.
Eine gefühlsmäßige Verbundenheit mit dem Schrein ergibt sich auf diese Weise, denn nun haben wir «sowas auch schon mal gemacht», der Schrein ist uns vertraut, wir «besitzen» ihn. Die nachgearbeitete kleine Blume dient später auch als symbolisches Zeichen der verbindenden Prinzipien zwischen dem Bentlager Schrein und der Arbeit der Kinder.
Hier ist etwas Heiliges und Verehrungswürdiges ausgestellt. Dieses Verehrungswürdige erscheint uns heute nicht nur befremdlich, sondern sogar abstoßend, grausig und «geschmacklos». Horrorfilmbegeisterten Kindern und Jugendlichen könnte es dagegen schon fast wieder einen angenehmen Schauder bereiten. In jedem Fall: Menschliche Knochen schmücken und ausstellen - wer käme heute auf solch eine Idee? Und dann dieser Schmuck, diese Verzierung - sind sie nicht kitschig und überladen? Was also soll dieses schwer verständliche spätmittelalterliche Stück, das so gar keinen Bezug zu unserem Leben zu haben scheint, Kinder heute noch angehen?
Die grundlegenden Motive des Heiligen- und Reliquienkults sind uns gar nicht so fremd: Die Verehrung von Idolen und Vorbildern huldigt dem Wunschbild vom besseren, vollkommenen Menschen, dem man nacheifern und mit dem man sich identifizieren möchte. Wenn man sogar ein Erinnerungsstück, quasi «ein Teil von» diesem Menschen besitzt, fühlt man sich ihm noch enger verbunden. Einfache, profane Dinge können als Andenken oder Symbol für das, was uns «etwas bedeutet», einen ideellen Wert erhalten. Mit Freude an der Überhöhung wird die Wertschätzung deutlich und sinnlich wahrnehmbar gemacht durch das Schmücken und Präsentieren. Hier drückt sich die Sehnsucht aus nach einer besseren Welt, einer Wunsch- und Traumwelt, dem Paradies.
Diese Bedürfnisse verbinden den mittelalterlichen Schrein mit den Devotionalien von heute, die Gegenstand des ästhetischen Gestaltens für die Kinder werden sollen. Waren es früher Heilige, die verehrt wurden, könnten es heute Pop- oder Fußballstars sein, von denen man statt körperlicher Überreste nun eben Autogrammkarten oder Fotos aus Zeitschriften sammelt. Erinnerungsstücke an nahestehende Menschen oder an geliebte Haustiere können ebenfalls quasi Reliquienstatus erhalten. Erweitert man - wie im allgemeinen Sprachgebrauch - die Definition von «Reliquie» zu «persönlich bedeutsames Erinnerungsstück», erweitern sich ebenfalls die Möglichkeiten der individuellen Umsetzung: Auch Dokumentationen eigener Erfolge - Pokale, Urkunden - und Andenken an besonders schöne Erlebnisse - Urlaubserinnerungen, Liebesbriefe - können es wert sein, wie Reliquien inszeniert und präsentiert zu werden.
Dabei können die Kinder durch die Art der Präsentation einem Gegenstand einen ideellen Wert geben bzw. diesen sichtbar machen, sich dies als gestalterische Möglichkeit bewusstmachen, verschiedene Varianten erproben und bei den Mitschülern sehen. Ihre alltagsästhetischen Verhaltensweisen - etwa beim Ausstellen bedeutsamer Gegenstände auf dem Regal im Kinderzimmer - werden hierdurch mit einbezogen und zum Unterrichtgegenstand gemacht.
Der Gemeinschaftsschrein soll sich aus individuellen Fächern (Schuhkartons)
zusammensetzen, angelehnt an die Fächerung des Schädelschreins,
die auch bei anderen Reliquienschreinen anzutreffen ist. Auf einem Arbeitsblatt
plant jedes Kind sein Fach und notiert mitzubringende Materialien.
Die Offenheit der Gestaltungsaufgabe ist in der Planung und Realisation
für manche Kinder zunächst nicht unproblematisch , es fällt
ihnen schwer, eine ihrem Gegenstand und dem eigenen Empfinden und "Geschmack"
angemessene Präsentation selbst zu finden und nicht wahllos und scheinbar
gefahrlos Ideen der Mitschüler zu imitieren. Andere gehen souverän
mit der Aufgabe um :
Cedric verziert sein Musikschul-Zertifikat mit ausgeschnittenen Noten
aus Silberpapier. Katharina setzt ihr Kuscheltier auf ein Podest. Bei Melek
kommt die Freude an der Opulenz, an Schleifen, Perlen und leuchtenden Farben
in der Umrahmung für das Foto ihres großen Bruders zum Ausdruck.
Andreas lässt seinen Kreidefelsen pur wirken und gestaltet den Kasten
schlicht in Meeres- und Wiesenfarben. Dalia erhebt eine winzige Überraschungs-Ei-Figur
als «Erinnerung an meine 2te Lehrerin» zur Reliquie mit rosa
Rose. Peter umgibt seine Ehrenurkunde mit Blüten und Lorbeerblättern.
Jens tapeziert seinen Schrein mit Computerspielprospekten und Fußballbildern.
Stephanie gibt ihrem Fach mit einem Vorhang den Reiz des Geheimnisvollen
und macht es so besonders kostbar und privat.
Die Rezeption des Klassen-Schreins erleichternd, gleichzeitig als Verbindung zum Schädelschrein, werden die Reliquien der Kinder mit roter Schrift auf weißen Kärtchen bezeichnet und erläutert: «Mein Kuscheltier als Erinnerung an Oma», «Mein verstorbener Hund».
Um ihre lieben und werten Gegenstände nicht der Gefahr von Diebstahl und Vandalismus auszusetzen, wollen die Kinder ihren Schrein lieber im Klassenraum als im Schulflur ausstellen. Er ist dann nur für geladene und vertrauenswürdige Gäste zugänglich, bei denen man auch eher Verständnis, Anteilnahme und Wertschätzung der Arbeiten voraussetzt. Denn Spott als Äußerung von Unverständnis für ihre persönlichen Arbeiten können Kinder sicher ebenso wenig vertragen wie erwachsene Künstler - und wie gläubige Klosterfrauen.
Sander, Helga / Peschl, Wolfgang: Klosterarbeiten; Tradition, Vorbilder, Anleitungen. Augsburg 1997